Drei Seniorinnen und Senioren sitzen an einem Tisch in einem Pflegeheim, haben Virtual Reality Brillen mit Smartphones auf und spielen gemeinsam Online-Spiele.
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Digitalisierung in der Pflege

Interview mit Frau Prof. Dr. Susanne Boll-Westermann

EWE business Magazin / Digitalisierung / Mehr Lebensqualität in der Pflege
Digitalisierung
22.08.2021  9 Min.
Autor: EWE business Redaktion

Digitalisierung in der Pflege: mehr Lebensqualität für pflegebedürftige Menschen

Mehr Digitalisierung in der Pflege bietet viele Vorteile. Welche das genau sind, verrät Frau Prof. Dr. Susanne Boll-Westermann im Interview. Und wie sie Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen steigert. 

Im Interview mit Frau Prof. Dr. Susanne Boll-Westermann, Vorstand OFFIS Institut für Informatik, Professorin Universität Oldenburg sowie Ko-Sprecherin des Pflegeinnovationszentrum, geht es um die Zukunft der Pflege. Welche Möglichkeiten sich für das Pflegefachpersonal durch die Digitalisierung ergeben, warum es durch neue Technologien nicht zu einer Entmenschlichung kommt und wann Telemedizin Sinn macht.

 

Sie testen in Ihren Reallaboren und dem häuslichen Pflegelabor IDEAAL immer wieder neue Innovationen aus dem Bereich der Pflege. Was denken Sie, wie die häusliche Pflege im Jahr 2030 aussehen wird? Und wie die Pflege in Pflegeeinrichtungen? 

Boll-Westermann: Im Jahr 2030 werden sich sowohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege zwei Dinge maßgeblich verändert haben. Zum einen werden Wohnungen und Häuser mit intelligenter Haustechnik ausgerüstet sein. Auch Pflege(fach)personen und Pflegebedürftige selbst werden tragbare Technologie verwenden, die sowohl die persönliche Gesundheitsversorgung aber auch die Lebensqualität massiv unterstützen werden. Hinzu kommt, dass regelmäßige Überwachung des Gesundheitszustandes und der Fitness sowie virtuelle pflegerische Konsultationen als Dienstleistungen zuhause einziehen werden. Unter dem Strich kann man sagen, dass Pflegedienste und Angehörige viel besser mit den Pflegebedürftigen vernetzt sind. Damit kann die Versorgung besser geplant und individuell abgestimmt werden.

 

Gibt es eine neue Innovation in der Pflege, von der Sie überzeugt sind, dass sie sich zeitnah in der Breite durchsetzen wird?

Boll-Westermann: Ein wachsender Trend, der sich schon seit Jahren abzeichnet, sind Technologien des sogenannten Smart Home. Neben den bereits bestehenden und gelernten Einsatzmöglichkeiten wie beim Hausnotruf wird weitere Sensorik sinnvoll integriert. Technologien vom Fitnessarmband, der Sprachkommunikation bis hin zum Hausroboter werden digitale Begleiter in der Pflege. Sie erlauben ein besseres Management chronischer Krankheiten, erhöhen die Selbständigkeit zuhause und ermöglichen eine bessere Vernetzung und Abstimmung mit Pflegediensten. Aber auch die Einbeziehung von Angehörigen wird unterstützen. 

 

Wie wichtig ist die Digitalisierung für die Weiterentwicklung der häuslichen Pflege? Wie hoch schätzen Sie das Potential für die Entlastung des Pflegefachpersonals ein? Und (wie) kann es dem Pflegekräftemangel entgegenwirken?

Boll-Westermann: Die Digitalisierung ist der Treiber für die Weiterentwicklung der häuslichen Pflege. Man kann als Indikator dafür auch den Umfang der Pflege an der Gesundheitswirtschaft heranziehen: In keinem anderen Sektor der Gesundheitswirtschaft ist das Wachstum größer als im ambulanten Pflegemarkt, dessen Bruttowertschöpfung in Deutschland zwischen 2010 und 2019 von 9,2 auf 18,9 Milliarden € stieg. 

 

Den Mangel an Pflegefachpersonen kann Digitalisierung nicht lösen. Im Mittelpunkt steht daher vor allem, dass der Einsatz der Pflegefachpersonen und die Expertise gut auf die Bedarfe abgestimmt ist. Wichtig ist dabei die Entlastung der Pflegefachpersonen, bessere Koordination der Pflege und die Unterstützung in der Dokumentation. Ebenso schnelle Verbindung mit einer Pflegefachkraft bis hin zur körperlichen Entlastung durch robotische Systeme. Das kann kraftaufwändige Pflegetätigkeiten unterstützen und somit den beruflichen Alltag des Pflegefachpersonals erheblich vereinfachen. 

 

Wie wichtig ist die Digitalisierung für die Weiterentwicklung der Pflege in Pflegeinrichtungen? Wo stehen die Pflegeeinrichtungen heute und wie präsent ist das Thema bisher generell (Internetanbindung / WLAN für Bewohner, …)?

Boll-Westermann: Die aktuelle Situation hat noch einmal deutlich gemacht, dass die Digitalisierung in der Pflege in Pflegeeinrichtungen noch einiges an Aufholbedarf hat. Dabei sind die Herausforderungen noch grundlegend. Es fehlt schlicht an der Hardware. Tablet-Computer mit WLAN könnten beispielsweise bei der zu pflegenden Person eingesetzt werden, um eine direkte Konsultation einer Hygienefachkraft zu ermöglichen. Aber Geräte gibt es kaum.

 

Inwiefern hat Corona hier nochmal für einen Schub gesorgt? 

Boll-Westermann: Corona hat zwei Dinge deutlich gezeigt. Zum einen, dass es noch an einer digitalen Infrastruktur, digitalen Geräte aber auch Schulungen und Einführungen neuer, digitaler Dienste wie eine elektronische Sprechstunde mangelt. Es muss klarer werden, dass Digitalisierung nicht mal eben nebenbei geschehen kann, sondern ausreichend Zeit und Ressourcen benötigt, damit sie bei den Pflegefachpersonen und den zu Pflegenden ankommt und von ihnen angenommen wird. Corona hat aber auch einen enormen Schub gegeben und gezeigt, dass Beratung auch über Distanz in vielen Fällen die Pflege vor Ort unterstützen und ergänzen kann. 

 

Sehen Sie auch Gefahren für die Pflege (sowohl in Einrichtungen als auch von der häuslichen Pflege) durch Digitalisierung? 

Boll-Westermann: Spricht man über Digitalisierung in der Pflege, so begegnet man oft dem Argument einer Entmenschlichung von Pflege. Das Pflegeinnovationszentrum setzt genau hier an. Es soll aufzeigen, wie Digitalisierung die Pflege unterstützt und Zeit für die pflegerische Aufgabe zurückgibt und nicht menschliche Zuwendung durch digitale Technologien ersetzt.  

 

Können Sie zwei, drei konkrete Punkte nennen, an denen klar wird, wie das Pflegepersonal durch Digitalisierung eine Erleichterung im Alltag erlangen könnte? 

Boll-Westermann: Mobile Technologien können Informationen vor Ort bieten. Über tragabare Geräte auch auch in Zukunft über Augmented Reality Technologien. Konsultationen werden digital möglich, gerade wenn Expertise nicht im Haus ist, kann diese ganz gezielt über eine Distanz angefragt werden. Robotische Unterstützung insbesondere für Heben und Umlagern von Patienten wird die körperliche Belastung von Pflegefachpersonen maßgeblich reduzieren. In der Pflegeausbildung wird die Digitalisierung thematisiert. Damit wird gewährleistet, dass Pflegefachpersonen schon von Anfang an für digitale Technologien sensibilisiert werden. Aber auch um den späteren Einsatz frühzeitig zu schulen. 

 

Welche Ziele können dann konkret durch Digitalisierung erreicht werden? 

Boll-Westermann: Digitalisierung kann verschiedene wünschenswerte Ziele erreichen. Eine höhere Verfügbarkeit von Gesundheitsversorgung, auch über digitale und vernetzte Dienstleistungen. Eine bessere Nutzung der Zeit sowie eine zusätzliche Qualifikation der Fachkräfte. Und eine höhere Lebensqualität der zu Pflegenden.

 

Was denken Sie, sind die ausschlaggebenden Kriterien, warum die Digitalisierung in Pflegeheimen noch sehr schleppend voranschreitet. Ist es die Unwissenheit der leitenden Angestellten? Oder sind es die Kosten? Fehlende Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Gibt es zu wenig Fördermaßnahmen? Ist die Antragsstellung zu kompliziert? Oder sind diese zu speziell und nicht für alle Pflegeheime geeignet? Oder …? 

Boll-Westermann: Digitalisierung in der Pflege wurde oft nicht aus dem Blickwinkel der Pflege entwickelt. Technologien sind meiner Erfahrung nach nur dann besonders erfolgreich, wenn sie in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit den Technologienutzenden konzipiert werden. Technologie war aber bisher nicht Teil der Ausbildung und Weiterbildung. Wenn die Möglichkeiten nicht bekannt sind, können Pflegefachpersonen sich nicht aktiv damit auseinandersetzen, den Einsatz erproben und sich auch nicht die pflegerische Praxis aneignen. Eine Herausforderung ist darüber hinaus die Frage der Abrechenbarkeit. Wenn es digitale Dienste gibt, ist weiterhin unklar, wie diese im Gesundheitssystem finanzierbar und abrechenbar sind.

 

Seit 2021 ist die elektronische Patientenakte erhältlich. Können Sie einschätzen, ob sie sich durchsetzen wird bzw. ob sie in der Breite eine Akzeptanz finden wird? Wenn ja: Welche Vorteile bringt sie für die Pflege? 

Boll-Westermann: Es ist erfreulich, dass sie nun ihren Weg nimmt. Die Patientenakte ist ein wichtiger Schlüssel zur vernetzten Digitalisierung im Gesundheitssystem. Wir sehen an anderen Ländern, wie die Gesundheitsversorgung der Einzelnen enorm von einer solchen Patientenakte profitieren kann. 

 

Was denken Sie, wo die Reise bei der Telepflege bzw. -medizin hingehen wird? 

Boll-Westermann: Die Televersorgung kann helfen, verlässlich medizinische und fachpflegerische Konsultation in Anspruch zu nehmen und Fachwissen ohne Ansteckungsrisiko unkompliziert, sicher und schnell zur Verfügung zu stellen. Vor allem im ländlichen Raum. Angesichts des sich ausdehnenden Fachkräftemangels und dem offensichtlichen Handlungsdruck bin ich davon überzeugt, dass beide Formen der Televersorgung ein enormes Potenzial für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung bieten.

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